2021 November: Trauerrede zum Volkstrauertag

Am

Verfasst von

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
der Anlass, aus dem wir uns heute hier versammelt haben, ist ein trauriger und betrifft ein Ereignis, dessen Auswirkungen bis heute spürbar sind.
Am 28. August dieses Jahres jährte sich die massenhafte Deportation der Deutschen in der Sowjetunion zum 80. Mal. Das Datum erinnert an den Erlass des Präsidiums der Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen”, in dem die Wolgadeutschen zwei Monate nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 ohne jeden Grund der Kollaboration mit Hitlerdeutschland bezichtigt wurden. Dieser Erlass, der die Wolgadeutschen und die ganze Volksgruppe für Jahrzehnte schuldlos an den Pranger stellte, der die Vertreibung einer ganzen Volksgruppe einleitete und die Russlanddeutschen letztendlich an den Rand ihrer Existenz brachte, markiert den tiefsten Einschnitt in der russlanddeutschen Geschichte. Ein Trauma, das auch in der Kinder- und Enkelgeneration nachwirkt. Der deutsch-sowjetische Krieg war für die Deutschen in der Sowjetunion eine Katastrophe, die einen jahrzehntelangen Opfergang der Volksgruppe nach sich zog.

Die verheerenden Folgen mussten die meisten Deutschen in der Sowjetunion am eigenen Leib erfahren – Vertreibung, Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen, mörderische Kälte, Hunger und Tod. Den beachtlichen menschlichen Verlusten folgte der Verlust der Sprache, Kultur und nationalen Identität.
Innerhalb kürzester Zeit wurde der Deportationsbefehl auf andere europäische Gebiete ausgedehnt und stellte somit alle Deutschen der Sowjetunion unter Generalverdacht. Bis Ende 1941 wurden über 890.000 Sowjetbürger deutscher Nationalität aus dem Wolgagebiet, der östlichen Ukraine, von der Krim, aus der
Kaukasusregion und den anderen europäischen Gebieten nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien zwangsumgesiedelt. Das gesamte bewegliche und unbewegliche Vermögen der Umsiedler wurde konfisziert. Die wochenlange Fahrt in die Verbannungsgebiete in Güterzügen – zu oft ohne ausreichend Proviant, Trinkwasser oder medizinischer Hilfe – forderte nicht wenige Opfer.
Schon ab Ende 1941 erfolgten mehrere Mobilisierungen für die NKWD- Arbeitskolonnen und Arbeitslager, die in das sowjetische GULag-System eingegliedert waren. Jugendliche, Männer und Frauen mussten in der Bau-, Rüstungs- und Holzwirtschaft, bei der Öl- und Kohleförderung, beim Fischfang oder bei Munitionsherstellung unter Bewachung und entrechtet Zwangsarbeit leisten. Keine andere ethnische Gruppe in der Sowjetunion hat eine derart tiefgreifende physische Ausbeutung erlebt. Von den 1,1 Mio. Russlanddeutschen, die sich während des Krieges im sowjetischen Machtbereich befanden, mussten etwa 350.000 also etwa ein Drittel der Männer, Frauen und Jugendlichen Zwangsarbeit leisten. Fast jede deutsche Familie wurde dadurch gewaltsam auseinandergerissen. In mehr als 200 Arbeitslagern und Stützpunkten vom Norden des europäischen Teils bis in den fernen Osten der Sowjetunion gab es deutsche Arbeitskolonnen.

Zehntausende starben bei Unfällen, an Hunger, Kälte oder Erschöpfung. Insbesondere in den Jahren 1942 bis 1944 war die Sterblichkeit in so manchen Arbeitslagern außerordentlich hoch. Die Leichen wurden oft in Massengräbern verscharrt, ohne die Angehörigen jemals darüber zu benachrichtigen.
Das Leid der deutschen Frauen und Kinder in den Kriegsjahren und danach ist wohl das düsterste Kapitel der traumatischen Geschichte. Die Deutschen waren die einzige Bevölkerungsgruppe in der Sowjetunion, wo auch Frauen, die keine Kinder unter drei Jahren hatten, einer massenhaften Mobilisierung unterlagen. Besser erging es aber auch den Frauen, die Kleinkinder hatten und in den Verbannungsorten zurückblieben nicht. Sie wurden unter Sonderkommandantur gestellt, mussten sich jeden Monat beim örtlichen Kommandanten melden und arbeiten gehen. Auch da herrschte Hungersnot, vor allem in den Kriegsjahren ging es hier ums nackte Überleben.
Nach eher vorsichtigen Schätzungen kamen bei der Deportation, in den Arbeitslagern und in den Sondersiedlungen nicht weniger als 150.000 bis 160.000 Deutsche in der Sowjetunion ums Leben. Nicht weniger schlimm erging es den Landsleuten, die in der Westukraine zuerst unter deutscher Besatzung waren. Zwar blieb ihnen aufgrund des Vorstoßes der deutschen Wehrmacht die Deportation in den Osten erspart, beim Rückzug der Wehrmacht aber waren ab März 1944 im Zuge der sogenannten „Administrativumsiedlung“ etwa 300.000 Russlanddeutsche wochenlang auf der Flucht in den Westen. Sie waren größtenteils im Warthegau angesiedelt und eingebürgert.
Nach Kriegsende wurden weit über 210.000 Russlanddeutsche in die Sowjetunion zwangsrepatriiert. Auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam 1945 wurde die Auslieferung sowjetischer Staatsbürger an die UdSSR endgültig entschieden. Nur etwa 80.000 Russlanddeutschen in den westlichen Besatzungszonen gelang es unterzutauchen und der leidvollen Verschleppung in den Osten zu entgehen. Um den Abtransport einer so großen Zahl von Menschen reibungslos und ohne Widerstand durchführen zu können, hatte man den Betroffenen die Rückkehr in ihre früheren Wohnorte versprochen. In Wirklichkeit aber wurden sie in den Norden des europäischen Teils der UdSSR und nach Sibirien verschleppt und wegen „Verrats der sozialistischen Heimat“ und „engster Kollaboration mit dem Nazi-Regime“ vielfach zu lebenslanger Verbannung und Zwangsarbeit verurteilt. Wie die anderen Sondersiedler, mussten sich auch die Repatriierten regelmäßig bei der Sonderkommandantur melden. Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die Jahre der Sondersiedlung unter der Kommandantur mit monatlicher Meldepflicht, dem Studiums- und Berufsverbot geprägt von Unsicherheit, Angst und völliger Entrechtung. In den Augen der sowjetischen Öffentlichkeit mussten die eigenen Deutschen aber noch Jahrzehnte lang nach dem Krieg für den deutsch-sowjetischen Krieg büßen – erniedrigt, verleumdet, gehasst, entrechtet und totgeschwiegen.

Mit dem Regierungserlass von 1948 wurde die fortwährende Verbannung der Deutschen noch stärker zementiert und auf „ewige Zeiten” festgelegt. Für einen Besuch im Nachbardorf ohne Erlaubnis des Kommandanten gab es zehn Tage Arrest. Für eine Reise, die über die Grenzen des Gebiets hinausführte, drohte eine Strafe von bis zu 20 Jahren Zuchthaus. Als Konrad Adenauer im September 1955 in Moskau die Rückkehr der letzten 10.000 Deutschen aus der sowjetischen Gefangenschaft aushandelte, waren die Russlanddeutschen noch immer in den Orten ihrer Verbannung. Erst der Regierungserlass vom 13. Dezember 1955 hob die erniedrigende Sonderkommandantur auf. Allerdings hatten die Deutschen kein Recht auf Rückerstattung des Vermögens oder die Rückkehr in die Orte der Aussiedlung. Zwar brachten die Regierungserlasse von 1964 und 1972 den Deutschen in der Sowjetunion weitere Erleichterungen, aber nicht den Freispruch des Generalverdachtes. Durch die wirtschaftliche Plünderung der deutschen Minderheit, die Auflösung aller kulturellen Institutionen in den Herkunftsgebieten, die Zerschlagung der nationalen Intelligenz, die Sondersiedlung unter Kommandanturaufsicht, die Zerstreuung über Sibirien, Kasachstan und Mittelasien, den Studiums- und Berufsverbot sowie das Totschweigen der Existenz der Volksgruppe noch Jahrzehnte lang nach dem Krieg wurde die Grundlage für eine eigenständige Entwicklung der Deutschen unwiederbringlich zerstört.
Geprägt vom Trauma der Deportation, Zwangsarbeit in den NKWD-Lagern und Entrechtung, entwickelte sich eine Art Schicksalsgemeinschaft unter den Deutschen der Sowjetunion. Doch überall dort, wo Deutsche durch die Willkür des Staates gelandet waren ließen sie durch ihrer Hände Arbeit blühende Oasen entstehen. Viele deutsche Kolchosen und Sowchosen, angeleitet von deutschen Vorsitzenden, brachten es zu einem beträchtlichen Wohlstand. Vorzeigewirtschaften, die gerne auch den ausländischen Journalisten vorgeführt wurden, gab es in der westsibirischen Kulundasteppe, in Kasachstan und in Kirgisien. Die Deutschen durften viel und fleißig arbeiten, in Zeitungsberichten sollten sie allerdings nicht unbedingt erwähnt werden. Auch die entsprechenden Auszeichnungen bekamen nicht selten andere.
Trotz der Liberalisierung nach 1985, die gewisse Voraussetzungen für die Aufarbeitung der Geschichte der Russlanddeutschen brachte, wurde der Prozess nie abgeschlossen. Eine faktische Rehabilitierung der Russlanddeutschen durch die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion hat es bis zum heutigen Tag nicht gegeben! Nach vielen Jahren erfolglosen Kampfes um die nationale Eigenständigkeit und die endgültige politische Rehabilitierung der Volksgruppe war die massenhafte Auswanderung nach Deutschland ein Akt der Verzweiflung. Heute leben etwa 2,5 Millionen Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland. Die meisten haben sich gut integriert und im Land ihrer Vorfahren neue Wurzeln geschlagen.

Und dennoch – Zukunft braucht Vergangenheit. Die Russlanddeutschen erlitten dieses Schicksal, weil sie Deutsche waren. Auch heute ist es wichtig, an dieses Kriegsfolgenschicksal zu erinnern. Erinnerung ist auch eine Möglichkeit, sich öffentlich mit der eigenen Geschichte und der der neuen-alten Heimat
auseinanderzusetzen. Für die Deutschen aus Russland, die im Laufe von Generationen mehrfach Entwurzelung und Heimatverlust erfahren haben, ist die Erinnerungskultur identitätsstiftend und existenziell wichtig. Gleichzeitig betrachten wir diese Erinnerungen als Auftrag, uns heute gegen jegliche
Diskriminierung von Flüchtlingen und anderen Minderheiten zu wenden. Schließlich mussten wir über Jahrzehnte in der Sowjetunion erfahren, was das bedeutet, allein aufgrund der Volkszugehörigkeit diskriminiert und gehasst zu werden. Auch für die Aufnahmegesellschaft ist die Kenntnis der historischen Zusammenhänge, die zur massenhaften Auswanderung der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion geführt haben, eine Voraussetzung für eine höhere Akzeptanz und ein besseres Verständnis der hier lebenden Russlanddeutschen oder anderer Zuwanderergruppen mit vergleichbarer Geschichte. Die Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion – auch wenn sie wenig direkte Berührungspunkte mit der Geschichte Deutschlands hatte, sich aber in ständiger Wechselwirkung befand, ist ein Teil der gesamtdeutschen Geschichte. Ein Teil, der gerade durch solche Veranstaltungen wie diese Gedenkfeier an die breite Öffentlichkeit gelangt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Cookie Consent mit Real Cookie Banner