Hilferuf der Ukrainedeutschen Wirtschaftskräfte, Strafgefangene, Verfügungs- und Verschiebemasse, jetzt Gefangene in Kriegswirren

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Text von Helmut Erwert

Seit einem Jahr wissen wir ausdrücklich, dass wir wieder eine „Zeitenwende“ erleben. Personen, die ihre Kindheit und Jugend 1945 und in der frühen Nachkriegszeit verbrachten, registrieren die Wiederkehr von Energiemangel, klammen Haushaltskassen, Wohnungsnot, Lebensmittelknappheiten und Millionen vertriebener Heimatloser, die man aufnehmen und versorgen muss.

Die Ukraine – ein Konglomerat

Der größte Flüchtlingsstrom kommt derzeit aus der kriegsumtobten Ukraine. Täglich zeigen die Medien sensationelle Bilder von zerstörten Häusern, vom Abtransport Verletzter, von frisch ausgehobenen Gräbern, doch selten wird nach den schwierigen historisch-politischen und ethnisch-sozialen Hintergründen dieses „bunten“ Landes gefragt. Die Ukraine ist kein homogenes Staatsgebilde, sie besteht aus vielen Regionen mit verschiedener historischer Herrschaftsprägung: Bessarabien, Bukowina, Wolhynien, Galizien, Transkarpatien, die Halbinsel Krim, die Schwarzmeerküstenregion etc. Dort lebten und wohnen noch heute verschiedene Volksgruppen wie (nach Größe): Ukrainer, Russen, Weißrussen, Moldauer, Krimtataren, Bulgaren, Ungarn, Rumänen, Polen, Juden, Armenier, Roma, Aserbaidschaner, Georgier. Wenige Bundesdeutsche dürften wissen, dass auch eine große Anzahl von Menschen deutscher Herkunft auf heute ukrainischem Boden einst siedelten bzw. heute dort noch leben. Die einzelnen Regionen wie auch der Gesamtstaat Ukraine haben viele Regimewechsel erfahren. ,“Eine Flagge kommt runter, eine andere wird hochgezogen. Man bleibt an einem Ort und ist plötzlich in einem anderen Land. … Darüber entscheiden Fürsten, Könige, Diktatoren. Die reden immer von Einfluss, Macht und Geschichte. Sie reden nicht von Menschen.“ (Klaus Sterzenbach: Grenzverschiebung, in: Straubinger Tagblatt, 26.02.2022.) Bei dieser ethnischen, historisch-politischen und historischen Kleinräumigkeit und Zersplitterung ist es nur unvollkommen möglich, in Kürze ein adäquates Bild von den Ukrainedeutschen zu zeichnen.

Gefangen in den ukrainischen Kriegswirren

Die heute in der Ukraine verbliebenen deutschen Familien leiden wie ihre anderen Mitbürger unter den tödlichen Umständen des Krieges, andere suchen inzwischen Zuflucht in Deutschland oder in der EU – jetzt, wo nach Jahren millionenfacher Zuwanderungen die Kommunen in Deutschland kaum noch aufnahmefähig sind. Die Eltern- und Großelterngenerationen dieser Ukraine-Deutschen hatten alle Schrecklichkeiten des letzten Jahrhunderts – Erschießung, Enteignung, Kollektivierung, Deportation – erlebt, ihre Nachkommen finden heute abermals kein friedliches Leben. In diversen Schreiben haben sich deutsch-ukrainische Gruppen an die bundesdeutsche Regierung, an den Präsidenten des Bundes der Vertriebenen, an die russlanddeutschen Landsmannschaften gewandt und über ihre Not geklagt. Am 29.01.2023 verfasste eine „Heimkehr Bürgerinitiative Ukraine“ in Saporischschja einen „Offenen Brief“ mit 74 Namen von Unterstützern, darunter Familiennamen wie Braun, Dick, Wildemann, Tiefenbach etc. . Der Brief ist ein Hilferuf, denn die bedrohten Deutsch-Ukrainer in dem kriegsgefährdeten Land oder die auf der Flucht bitten um Aufnahme in der BRD, doch werden ihnen große Hürden in den Weg gelegt, obwohl sie deutscher Abstammung sind.

Die ukrainischen Siedlungen der deutschen Kolonisten

Einst war der größte Teil der heutigen Ukraine ein Siedlungsschwerpunkt der Deutschen im russischen Zarenreich. Gemäß der staatlich-russischen Anwerbungsbemühungen gründeten sie hier weitgehend geschlossene deutsche Kolonien, ließen sich in dem zum Teil sehr fruchtbaren Land mit Schwarzerde nieder. Für den Getreideanbau waren diese Böden besonders günstig. Kolonisten aus Südwestdeutschland und aus Elsass und Lothringen fuhren auf sogenannten „Ulmer Schachteln“ die Donau hinunter, passierten niederbayerisches Land, kamen an Straubing, an der Wallfahrtskirche am Bogenberg, an Passau vorbei. Über Wien gelangten sie in das Mündungsgebiet am Schwarze Meer, von dort in die Gebiete Neu-Russlands. Andere deutsche Siedler erreichten diese Gebiete aus dem Norden auf dem Festland über Warschau und Lemberg. Die heutigen Nachfahren dieser Siedler bilden die Volksgruppen der Ukraine-Deutschen.

Quelle: Information zur politischen Bildung 222/89 Linke Hälfte der Karte: Die blauen Linien von NW nach SO zeigen die beiden Hauptrouten der Besiedlung der heutigen Südukraine durch deutsche Siedler.
Bildnachweis: Stadtarchiv Ulm – Landesbildungsserver Baden-Württemberg. Ulmer Schachteln auf dem Donaustrom trieben wochenlang flussabwärts über Wien, Buda und Pest sowie Belgrad zum Schwarzen Meer. Die langen Ruder dienten zur Stabilisierung der Richtung

Der Beginn der Katastrophen

Während des Ersten Weltkrieges dienten 250.000 junge Männer der deutschen Siedler innerhalb des Zarenreiches in der russischen Armee, trotzdem kam es zu Massenrepressalien gegen die deutsche Bevölkerung, da man sie der Zusammenarbeit mit dem deutschen Feind verdächtigte. Hunderttausende wurden aus den Frontgebieten in den Osten zwangsumgesiedelt. Erst seit 1918 konnten ukraine-deutsche Überlebende in ihre Siedlungsgebiete zurückkehren. Dort aber gab es Bürgerkrieg. Nachdem die Rote Armee obsiegte, begann die Sowjetisierung: Die Kirchen wurden in Lagerhallen oder Ställe verwandelt, die wohlhabenden Bauern als „Kulaken“ verfolgt, die Landwirtschaft zwangskollektiviert, die Betriebe verstaatlicht, es gab eine Hungersnot. Ab 1936 wurden die deutschen Schulen geschlossen, Ukrainisch als Unterrichtssprache eingeführt.

Bundesarchiv. Bild 183 WD 402-500 Dissmann 1 Juli 1944 In langen Kolonnen wurden die Ukrainedeutschen auf Pferdefuhrwerken als „Administratrivumsiedler von NS-Organisationen 1943/1944 aus ihren ukranischen Siedlungsgebieten weggebracht.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten auf dem Territorium der heutigen Ukraine etwa 880.000 ethnische Deutsche. Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts 1939/40 wurden viele Deutsch-Ukrainer ins „Reich“ umgesiedelt, in den Jahren des Krieges, als die deutsche Wehrmacht die Ukraine bekriegte,wurden dann 450.000 Deutsche aus der Ukraine in die östlichen Regionen der Sowjetunion deportiert. Von ihnen verlor jeder dritte in den Arbeitskolonien des Innenministeriums der UdSSR und in den Sondersiedlungen das Leben. Während der deutschen Besetzung der Ukraine waren den in der Ukraine verbliebenen Deutschen neue schwierige nationale Loyalitäten auferlegt. Vor der Rückeroberung der Gebiete durch die Rote Armee 1943-44 befahlen NS-Behörden eine weitere Umsiedlung. Deutschstämmige Bauern – insgesamt 280.000 – mussten Trecks zusammenstellen, um ins „Altreich“ und in den „Reichsgau Wartheland“ zu ziehen – das endgültige Aus geschlossener Gemeinden oder Familienverbänden mit deutsch-ukrainischen Siedlern Im Winter 1945 eroberte die Rote Armee auch diese Gebiete, die hierher Umgesiedelten mussten erneut ihr Heil in der Flucht suchen.

Die Ukrainedeutschen in der Zerstreuung

Diejenigen von ihnen, die nach Kriegsende sich auf deutschem Boden befanden, wurden von den West-Alliierten in die Sowjetunion zwangs-repatriiert. Für Stalin waren sie wie auch die in der Ukraine verbliebenen Deutschen „Volksverräter“ und wurden kollektiv in Straflager gesteckt. Erst 1964 erfolgte ihre Rehabilitierung, doch sie durften nicht in ihre ehemaligen Siedlungsgebiete in der Ukraine zurückkehren. 1972 wurde dieses administrative Verbot über die Rückkehr der Deutschen in die Ukraine aufgehoben. Nachdem nach dem Ende der Sowjet-Union 1991 die Ukraine politisch unabhängig geworden, war, waren inzwischen mehr als 38 000 Deutsche aus Zentralasien in die Ukraine zurückgekehrt – weniger als 5 Prozent der deutschen Bevölkerungszahl der Vorkriegszeit. Damals stellten viele russlanddeutsche Familien aus verschiedenen Regionen Anträge zur Spätaussiedlung in die BRD. 1989 erreichte ihre Zahl nahezu 100.000, in den Jahren bis 1995 verdoppelte sie sich jährlich. Heute machen sie einen erheblichen Teil der Bewohner mancher bundesdeutschen Gemeinden aus. Nach Angaben der letzten Volkserhebung 2001 machten die in der Ost- und Südukraine verbliebenen Angehörigen der deutschen Minderheit noch 33 000 Personen aus. Viele von ihnen sind nun abermals lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt.

Die deutsche Volksgruppe im Ukrainekrieg

Da ihren Siedler-Vorfahren so viel Leid auferlegt worden war und ihnen heute noch auferlegt wird, wollen viele, – wenn nicht alle? – in „ihr historisches deutsches Heimatland“ zurückkehren. Die Ämter in der BRD verlangen von den Aussiedlungswilligen den dokumentarischen Nachweis ihres Nationalitätenstatus als Deutsche, den sie aber bei den vielen historischen Umbrüchen nicht erbringen können. Wie sollten sie auch, da „alle Deutschen in der sowjetischen Ukraine in der Nachkriegszeit den brutalsten Repressionen, Demütigungen und allerlei Belästigungen ausgesetzt waren. . . . Viele Deutsche haben keine Unterlagen bekommen oder wurden zwangsweise als Personen anderer Nationalität angemeldet.“ In den ukrainischen Reisepässen sowie in den Geburts- und in den Heiratsurkunden fehlte die frühere Spalte „Volkszugehörigkeit“, gegenwärtig sei es „aufgrund des Krieges in der Ukraine unmöglich, nach Archivdokumenten und Referenzen zu suchen.“ Daher bitten sie nun darum, „durch Vorlage von Dokumenten über deutsche Vorfahren und Bestätigung der Verwandtschaft mit ihnen ihre deutsche Zugehörigkeit“ nachweisen zu dürfen. Sie wollen als Spätaussiedler in der BRD aufgenommen werden.

Auswahl von Literatur

Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen/Haus des Deutschen Ostens (Hrsg.): Czernowitz, Kiew, Jalta, Odessa
– Begegnungen, Impressionen, Erfahrungen. Dillingen 1995.
– Bundesministerium des Innern/Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (Hrsg.): Deutsche aus Russland gestern und heute, Stuttgart 2006.
– Eisfeld, Alfred: Die Russlanddeutschen. München 1992.
– Karpathenblatt. Das Online-Magazin der Deutschen in der Slowakei: Über die Deutschen in der Ukraine. Internet 2023.
– Längin, Bernd G.: Die Russlanddeutschen unter Doppeladler und Sowjetstern. Augsburg 1991.
– Ome-lexikon.uni-oldenburg.de/regionen/ukraine/, und /schwarzmeergebiet/, Internet 2023.
– de.wikipedia.org/wiki/Schwarzmeerdeutsche, Internet 2023. – Walth, Richard H.: Auf der Suche nach Heimat – In Search of a Home. Dülmen 1990.

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